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Slavisches Seminar

Das Dokument als Verfahren: Dokufiktionalität in Slavischen Literaturen

Am Beispiel der Dokumentarischen Methode bei Svetlana Aleksievič in Poslednie svideteli (1985) und Danilo Kiš in Porodični cirkus (1965-1972)

Für keine Epoche in den darstellenden oder erzählenden Künsten wird eine solch starke Verbindung mit Politik und „realer“ Wirklichkeit angenommen wie für den Realismus. Dokumentarische Schreib- und Kunstpraktiken haben auch heute Konjunktur, ob im Theater, in der Performancekunst, im Film, in der Fotografie oder der Literatur. Während der sogenannte postkonstruktivistische Realismus der Re-Präsentation im Sinne einer Abbildbarkeit der Wirklichkeit misstraut und es weniger um die ontologischen ,WAS-Fragen’, sondern vielmehr um die poetologischen ‚WIE-Fragen‘ geht, hat das Faktische und Dokumentarische als Referenz für gegenwärtige „Realismen“  nicht an Bedeutung eingebüßt (siehe z.B. Milo Rau). Es wird immer wieder versucht, sich der Wirklichkeit zu nähern und durch Einsatz von Wirklichkeitseffekten ihre Erfahrbarkeit in der Kunst zu verorten.

Für den bedeutenden Schriftsteller des Südosten Europas Danilo Kiš (1935-1989) war der Umgang mit der Vergangenheit und die Erfahrbarkeit von faktisch „Gewesenem“ schriftstellerische Praxis. Seinen Selbstaussagen zufolge war die Bewältigung der Vergangenheit eng mit der Frage nach ihrer Erkenntnis verbunden, wobei die fiktionale Narration unter Verwendung von historischem Material, so Kiš, an die Wahrheit näher herankäme, als die Geschichtsschreibung selbst. Was Danilo Kiš‘ Werke zur Shoah und dem Zweiten Weltkrieg angeht, so ist seine Romantrilogie Porodični cirkus (dt. Familienzirkus) primär autobiographisch motiviert, bestehend aus Rani jadi (dt. Frühe Leiden), Bašta, pepeo (dt. Garten, Asche) und Peščanik (dt. Sanduhr). Gegenstand in dieser Trilogie sind autobiographische Erinnerungen des Schriftstellers Danilo Kiš an seine Kindheit und das Trauern um den Vater, dessen Spuren sich im Konzentrationslager Auschwitz verlieren. Danilo Kiš hat in poetologischen Selbstaussagen das Dokument (im Konkreten das Familienarchiv seines Vaters) als Ausgangspunkt seines Schreibens bezeichnet. Wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, versuchte sich auch die belarusische Nobelpreisträgerin Svetlana Aleksievič an dem Spannungsfeld zwischen Fingiertem/Artifiziellem und Faktualen. Im Dokumentieren, Sichern und Bearbeiten von Stimmen ihrer Zeitgenoss*innen (sie spricht vom Homo Sovieticus) gehen Dokument und Literatur eine Symbiose ein, die eine wechselseitige Aufwertung der beiden Zugänge zur Wirklichkeit bzw. deren Erkenntnissuche (Historiographie vs. Literatur) bewirkt. Das montierte Dokument wird bei ihr zum literarischen Prinzip: „Я собираю повседневность чувств, мыслей, слов. Собираю жизнь своего времени. Меня интересует история души. Быт души.“ (Aleksievič 2015: 5f.). Auf eindrückliche Art und Weise hat sie das in ihren ersten beiden Büchern U vojny ne ženskoe lico (1985) und Poslednie svideteli (1985) umgesetzt, die vom Zweiten Weltkrieg handeln. Für den gewählten Analyserahmen ist vor allem Poslednie svideteli interessant – als eine Collage von 291 bruchstückhaften Erinnerungen bzw. Erzählungen (jeweils etwa eine bis vier Seiten lang) von ehemaligen Sowjetbürger*innen, teilweise jüdisches Glaubens. Sie sind die „letzten Zeugen“, die im Alter von 3 bis 18 Jahren die systematische Verbrennung von belarusischen Dörfern, die Verfolgung von sowjetischen Jüdinnen und Juden in Ghettos, die Vernichtung von Jüdinnen und Juden in Konzentrationslagern erlebt haben oder davon berichten können. Während bei ihr die Pluralität der Stimmen („Roman der Stimmen“) den Opfern ein Denkmal setzt, zeigt sich bei Danilo Kiš das Leid des Kollektivs in der Singularität des autobiographisch motivierten und beschriebenen Familienschicksals.

Die Interviewmethode von Aleksievič, bei der fast alles Zitat ist (Dokumentmontage), könnte nicht im krasseren Gegensatz zu den autobiographischen Romanen des Schriftstellers der späten Moderne, Danilo Kiš, stehen, der als im klassischen Sinne fiktionaler Erzähler gelten kann. Dass sich beide sowohl in ihren Werken als auch außerhalb auf das Dokument (und die in ihm verbriefte Wirklichkeit) beziehen, legitimiert diesen gewagten Vergleich (Jürgen Kocka prägte für die Geschichtswissenschaft den Begriff des „asymmetrischen Vergleichs“). Signifikant für den hiesigen Vergleich ist die Beobachtung, dass für beide Autor*innen ein Wirklichkeitsbezug in Form von Dokumenten maßgeblich ist (siehe autopoetologische Aussagen), dennoch diese sogenannte Realität nicht primär als Seiendes, sondern als Werdendes gedacht wird.

Auch wenn Aleksievič sich selbst nicht als „Dokumentarprosaikerin“ bezeichnet, ist sie aufgrund ihrer Bezüge auf Sofija Fedorčenko, Varlam Šalamov und Ales' Adamovič eindeutig der Dokumentarliteratur zuzuordnen. Bei der Epochenzuschreibung verhält es sich komplizierter: Einerseits zielt sie auf Affekte und Emotionsregungen bei den Leser*innen, was sicherlich auch auf die Prägung von ihrem vielfach erwähnten Vorbild Lev Tolstoj und der ihm attestierten Leser*innennähe „durch direktere[…], offenere[…] Formen des Austausches mit dem Lesepublikum“ (Adamovič 1986: 327) zurückzuführen ist. Überhaupt sind die von ihr an Fallbeispielen dargestellten ‚großen‘ Themen wie Krieg, Selbstmord, Hunger (kurz: Leid) und deren begleitenden Gefühle wie Scham, Trauer, Wut etc. auch ein Verweis auf den Realismus des 19. Jahrhunderts, der das für den Menschen Typische und Universelle herausstellen wollte. Andererseits verwendet sie literarische Verfahren der Montage, die besonders mit den 1920er und 1930er Jahren und journalistisch-reportageartigen Schreibweisen wie der Literatura fakta verbunden werden. Während sich bei Aleksievič die beiden realistischen Traditionen (19. Jhdt. vs. Avantgarde), wie sie für die russisch-sowjetische Realismusrezeption üblich sind, treffen, greift Danilo Kiš primär auf Stilmittel der Avantgarde zurück. Die für ihre Wirklichkeitsfremde bekannte Phantastik, wie sie Kiš in seinen Büchern bemüht, würde „die Grenzen des Realismus des 19. Jahrhundert[s] überschreite[n]“ (Beganović 2004). Interessanterweise ist für ihn Viktor Šklovskij - Formalist, Schriftsteller und u.a. Wegbegleiter und Inspirationsquelle der literatura fakta - und die von ihm in den 20er Jahren analysierten Verfahren (Verfremdung, Parallelismen etc.) zentral. Danilo Kiš‘ Aufsatz Paralelizmi aus seinem Nachlass sowie viele Selbstaussagen bezeugen Šklovskijs Bedeutung als Literaturtheoretiker und seinen Einfluss auf Kiš (vgl. Petzer 2008: 187). Die Po-Et(h)ik bei Danilo Kis und die Emotionsgeschichte bei Svetlana Aleksievič greifen einerseits teilweise realistische Schreibweisen auf, stehen andererseits im absoluten Gegensatz zum jeweiligen Verständnis des Sozialistischen Realismus in Jugoslawien und der Sowjetunion.

Ausgangspunkt dieses Promotionsvorhabens ist über den Begriff des Dokumentarischen verschiedene Realismustraditionen in einen produktiven Zusammenhang zu rücken und das Dokument nicht als Gegensatz zur Literatur zu denken, wie das teilweise in slavistischen Sekundärtexten nahegelegt wurde. Der Titel des hiesigen Projekts „Das Dokument als Verfahren“ stellt bewusst eine Nähe zum programmatischen Text des Formalismus Isskustvo kak priem von Viktor Šklovskij her: Das Dokument bzw. dokumentarisches Material im literarischen Text ist nicht im Gegensatz zur Literatur zu deuten, sondern vielmehr als ein literarisches Verfahren. Gegenstand ist demnach die Poetologie des Dokuments in literarischen Texten.

Das Verhältnis von Fakt und Fiktion ist im Zeitalter der „Fake News“ aktueller denn je. Das paradoxe Verhältnis deutet der Begriff selbst an, denn eine auf Recherche basierte Information, Nachricht, kann per se kein Fake sein. Was die Literatur- bzw. Fiktionalitätstheorie anbelangt, so ist das Dokument im literarischen Text eine Provokation für das sonst gemeinhin bekannte Begriffspaar von Fakt und Fiktion. Das Dokument „attackiert“ dieses vereinfachte Verständnis von Wirklichkeit, wobei die Vereinfachung darin besteht, dass Wirklichkeit in Opposition zu einer Fiktion gedacht wird, die nur das „Ausgedachte“ im Sinne eines „Fake“ oder einer Lüge (nicht aber eines kreativen Schaffensprozesses) kennt. In den letzten 10 - 15 Jahren wurde im Rahmen der Literatur- und Fiktionalitätstheorie der Begriff der Dokufiktionalität entwickelt, die das Dokument bzw. die Dokumentation nicht im Gegensatz, sondern im Zusammenspiel mit Fiktion bezeichnet. Während man in der Germanistik und in der Komparatistik dieses theoretische Problem in Beispielanalysen und Monographien im Zuge der letzten Jahre zu klären versucht hat, blieb der Diskurs der Dokufiktionalität in der Slavischen Literatur- und Kulturwissenschaft weitestgehend unbearbeitet. Die Fülle an Dokumentarschriftsteller*innen aus Ost- und Südosteuropa aus dem 20. und 21. Jahrhundert bietet viel Material zur Erschließung und Untersuchung dokumentarischer Methoden. Außerdem ließe sich die Analyse, wobei damit neue theoretische Herausforderungen hinzukämmen, auch auf das Theater und den Film ausweiten. Die vorliegende Promotionsidee wird einzelne paradigmatische Fallbeispiele aus dem 20. und 21. Jahrhundert erarbeiten und einen analytischen Beitrag zu Dokufiktionalität in den Slavischen Literaturen und Kulturen leisten.

Doktorandin: Philine Bickhardt

Erstbetreuerin: Sylvia Sasse

Kobetreuer: Prof. Dr. Christian Voss (HU Berlin)

Literatur

  • Adamovič, Ales’ (1986): Nu tak delajte sverchliteraturu! In: Adamovič, Ales’ (Hg.): Vyberi žizn’. Literaturnaja kritika, publicistika, Minsk, S. 325-341.
  • Bidmon, Agnes; Lubkoll, Christine (2021): Dokufiktionalität in Literatur und Medien. Erzählen an den Schnittstellen von Fakt und Fiktion, Erlangen-Nürnberg.
  • Klein, Christian; Martínez, Matías (2009): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart, Weimar.
  • Lachmann, Renate (2019): Lager und Literatur. Zeugnisse des Gulags, Konstanz.
  • Petzer, Tatjana (2008): Geschichte als Palimpsest, Frankfurt am Main.
  • Werle, Dirk (2017): Dokumente in fiktionalen Texten als Provokation der Fiktionstheorie. In: Willand, Marcus (Hg.): Non Fiktion 1, Hannover, S. 85-108.
  • Werle, Dirk (2006): Fiktion und Dokument. Überlegungen zu einer gar nicht so prekären Relation mit vier Beispielen aus der Gegenwartsliteratur. In: Oels, David etc. al. (Hg.): NonFiktion 2, Hannover, S. 112–122.