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Sylvia Sasse: Vor 50 Jahren, im Herbst 1960, wurden Sie sechsunddreißigjährig und frisch habilitiert an die Universität Zürich berufen, auf ein neu geschaffenes Extraordinariat für Slavische Philologie. Wie muss man sich ein Berufungsverfahren Ende der 1950er Jahre vorstellen?
Peter Brang: Ich habe mich im Juli 1959 in Bonn für Slavische Philologie habilitiert, und dann kam ein dreiviertel Jahr später aus Zürich eine Einladung zu zwei Vorträgen. Die Vorträge fanden im Mai 1960 statt, ich habe damals ein literatur- und ein sprachwissenschaftliches Thema vorgetragen, Das Duell im russischen Leben und in der russischen Literatur sowie Schriftreformen bei den Slaven und ihre geistesgeschichtlichen und politischen Hintergründe. Das waren damals, so würde man heute mit (auch von Anna Achmatova gebrauchter) russischer Terminologie sagen, vegetarianskie vremena für ein Berufungsverfahren. Man hatte zuvor bei einer Reihe von Kollegen, Vasmer und Rammelmeyer und vermutlich noch weiteren, Erkundigungen über mögliche Kandidaten eingezogen (noch ein weiterer wurde zu Vorträgen eingeladen), und dann hat mich der Germanist Max Wehrli, der Kommissionspräsident war, einige Wochen nach den Vorträgen angefragt, ob ich wohl bereit sein würde, einen Ruf nach Zürich anzunehmen. Das war für einen frisch habilitierten Privatdozenten keine schwere Entscheidung. Im Oktober 1960 bin ich dann zu Verhandlungen mit dem damaligen Erziehungsdirektor Walter König gefahren. Vorher wusste ich schon von Wehrli, dass die Absicht besteht, ein Slavisches Seminar zu gründen. In den Verhandlungen kam man mir sehr entgegen, weil die Behörden der Meinung waren, wenn schon, denn schon. Dann sind wir von Bonn nach Zürich gezügelt, am 13./14. März 1961.
Sasse: Im Frühjahr 1961 hatten Sie dann die Herkulesaufgabe, das Slavische Seminar zu begründen und aufzubauen. Sie waren neu in Zürich und neu in der Schweiz. Was waren Ihre ersten Eindrücke an der Universität?
Brang: Was das Verhältnis zur Schweiz anbelangt, so war sie für mich nicht so ganz neu, weil ich zweimal als Ferienkind, 1937 und 1938 je vier Wochen in Basel war. Ich war damals schon auf dem Pilatus, am Vierwaldstätter See und auf der Rigi, so ist meine Liebe zu den Bergen geweckt worden, ich wurde Mitglied des Alpenvereins, wollte beim Militär zu den Gebirgsjägern – Gott sei Dank ist daraus nichts geworden. Das war nämlich vor allem Infanterie, die in den russischen Wäldern verheizt wurde. Meine ersten Eindrücke an der Universität? Die Philosophische Fakultät zählte 1961 nur 32 Professoren. Ich war sehr überrascht über die Atmosphäre in Zürich, die so freundlich und so sachlich war. Ich habe in meiner gesamten Zeit eigentlich kaum irgendwelche schweren, nur sehr selten ernstliche Zerwürfnisse erlebt. In den ersten Wochen meiner Tätigkeit am Seminar war noch gar kein Assistent da. Meine Frau war die erste, die mir beim Büchereintragen und Signaturenkleben half. Mein erster Assistent kam aus der Zürcher Anglistik, der nächste aus England, Julian Watts, mit einem BA (with honours) aus Cambridge, aber er wusste nicht, was der Brokgauz-Efron ist, und da sind mir die Gefahren eines sehr engen Studiums natürlich bewusst geworden. Nach anderthalb Jahren haben dann Schweizer Studenten bzw. Studentinnen die Assistentenstellen übernommen. Ich bekam eine, sehr bald eine zweite und eine dritte, weil wir immer sagen konnten, die Hauptaufgabe ist die Verwaltung der Bibliothek, dafür braucht es Sprachkenntnisse. Die Assistentenstellen wurden meist geteilt, wöchentliche Arbeitszeit in der Vollstelle 21 Stunden.
Sasse: Können Sie sich an erste Kontakte zu Kollegen erinnern?
Brang: Da kann ich von einem Kulturschock berichten. Mir wurde eingeschärft, wenn man neu ist, müsse man Antrittsbesuche machen. Das war in Deutschland damals üblich. Und wir haben das dann auch gemacht. In den ersten zwei Jahren haben wir immer mal wieder Kollegen angerufen und gefragt, ob wir am nächsten Sonntag gegen 11 Uhr einen kurzen Besuch machen können. Dieses Missverständnis, denn hier kannte man das nicht und die Männer sind eingebunden in die Zünfte, Militärbünde und sonstigen Vereine, dieses Missverständnis hat dazu geführt, dass wir mit gut einem Dutzend Kollegen ein recht persönliches Verhältnis aufgebaut haben.
Sasse: Wie haben Sie herausgefunden, dass es sich um ein Missverständnis handelt?
Brang: Nun, die Kollegen waren immer freundlich erstaunt. Einer der beiden Anglisten, Ernst Leisi, hat uns dann auch gesagt, dass das hier gar nicht üblich ist.
Sasse: Ihre gesamte Amtszeit über haben Sie Slavistik unter den Bedingungen des Kalten Krieges betreiben müssen. In dieser Zeit war die Slavistik zwangsläufig ein stark politisiertes Fach. Einerseits benötigte man Kenner des gegnerischen politischen Systems, andererseits war die Slavistik auch häufig ein Ort für die politische Linke, die den Klassenfreund und nicht den Klassenfeind studieren wollte. Wie hatten die politischen Verhältnisse Einfluss auf die Arbeit an der Universität?
Brang: Ich zitiere in diesem Zusammenhang immer gerne die Bemerkung von Dietrich Gerhardt, die Slavistik sei ein Kriegsgewinnler gewesen. Tatsächlich war es so, dass man wusste, man muss das Fach fördern, damit man Spezialisten für Osteuropa hatte. Aber in der allgemeinen Arbeit sind wir politisch kaum belästigt worden. Sicherlich hatten bestimmte politische Ereignisse, wie der Einmarsch in die Tschechoslowakei, für uns Konsequenzen. Einerseits wurde in der öffentlichen Meinung die Frage laut, warum man denn Russisch studieren solle, andererseits hatten wir dank der Besetzung der ČSSR plötzlich eine Reihe von tschechischen und slowakischen Studierenden.
Sasse: Sie haben schon davon gesprochen, dass Sie zunächst keine Assistierenden hatten. Wie sah es mit den Lektoren aus. Wer unterrichtete die Sprachen?
Brang: Das war in der Tat ein Problem. Für das Serbokroatische hatten wir zuerst eine sehr begabte Studentin, die Slavistik hier studierte, dann Dozenten aus Jugoslawien, wobei man von 4 Stunden Lehrauftrag in der Schweiz ja nicht leben konnte. Da mussten wir ständig nachverhandeln. Unser erster Polnischlektor, Tadeusz Sarnecki, war einer von mehreren Tausend Polen, die in der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges interniert worden waren. Er war Jurist, arbeitete aber im Büro einer Teigwarenfabrik. Für sein Lebensglück bedeutete es viel, dass er am Seminar seine Muttersprache unterrichten durfte. Das Russische betreute Maria Bankoul, eine Russin, die in Lyon promoviert hatte; sie hat über 30 Jahre unterrichtet. Sie war ein Glücksfall, auch wenn mit dem Marxismus liebäugelnde Studenten in der Zeit der Studentenrevolte 1968/69 Sowjetlektoren verlangten. Die Emigrantensprache, so hiess es, die wollen wir nicht mehr.
Sasse: Auch Forschungsaufenthalte und das Arbeiten in Archiven waren zur Zeit des Kalten Krieges sicher keine einfache Angelegenheit. Wie sind Sie als Forscher mit diesen Schwierigkeiten umgegangen?
Brang: Ich selbst hatte schon in Bonn einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft gestellt, 1960, und bewilligt bekommen, um im Rahmen der zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR bestehenden Abkommen nach Russland zu gelangen. Nun war ich aber Professor in Zürich. Über die Berner Sowjetbotschaft bekam ich dann aber doch die Möglichkeit, zwei Monate in Russland zu arbeiten. Die Mittel dafür stellte, obwohl ich schon in der Schweiz war, die DFG zur Verfügung. Man musste damals, was das Arbeitsthema anbelangt, schon ein bisschen schummeln, ich durfte nicht sagen, ich wolle über Literatursoziologie forschen, so etwas gab es in der UdSSR damals offiziell nicht, ich gab allgemein »Methodik der Literaturwissenschaft« an. Ich habe dann in Leningrad und in Moskau in den Bibliotheken gesessen und mich mit soziologischen Ansätzen in der Literaturwissenschaft der 1920er Jahre befasst (Ėjchenbaum, Šklovskij, Tynjanov, Gric, Trenin usw.) Vorher, 1956, war ich in Helsinki gewesen, um Material für meine Habilitationsschrift zu sammeln. In der Universitätsbibliothek Helsinki befand sich ja die grösste russische Bibliothek ausserhalb der Sowjetunion. Helsinki hatte seit 1828 von allen Bucherscheinungen im Zarenreich jeweils eines der drei »objazatel‘nye ėkzempljary« (Pflichtexemplare) erhalten, ein zweites ging immer an die Imperatorskaja publičnaja biblioteka (die »Saltykovka«) in St.Petersburg, das dritte an die Zensur… Helsinki war nach 1945 ein Eldorado für Slavisten aus den USA, Kanada, Frankreich, allgemein für Forscher aus dem Westen. In den 1960-1980er Jahren war ich mehrere Male in der Sowjetunion, 1963, 1977, 1983 (Leningrad, Moskau, Kiev), dann auch 1991 und 2001 – immer mit Sonderbewilligungen, denn einen offiziellen Dozentenaustausch gab es nicht.
Sasse: Wie haben Sie in der Sowjetunion Kontakte zu Kollegen knüpfen können?
Brang: Das war nicht einfach. Für Studierende war das leichter, die konnten sich einiges erlauben, während man als Dozent ja immer ein offizieller Vertreter war. Seit 1966 kannte ich Dmitrij Sergeevič Lichačev, ihn habe ich mehrfach getroffen, 1983 hat die Zürcher Philosophische Fakultät ihm auf meinen Antrag hin die Ehrendoktorwürde verliehen. Schon 1962 hatte ich in Moskau Viktor Vladimirovič Vinogradov kennengelernt und in Leningrad Michail Pavlovič Alekseev und hätte beinahe auch Anna Achmatova getroffen, wenn Alekseev nicht Angst gehabt hätte, mich zu einem Treffen mit ihr mitzunehmen. Seine Frau sagte, ach nimm doch den Brang mit, er aber meinte aber, das sei zu heikel. Ich war im Interesse der Studierenden sehr vorsichtig, die Studierenden waren es nicht. Wir hatten mehrfach Probleme, weil sich gerade die »linken« Studierenden die Freiheiten des Wortes erlaubten, die sie in der Schweiz gewohnt waren. Eine Studentin hat in Voronež z.B. gesagt, ihr habt hier viel zu viel Militär, woraufhin es ein grosses Verfahren gab.
Sasse: Sie haben in den 1960 bis 1980er Jahren einige Schriftsteller an das Slavische Seminar eingeladen, u.a. Iossif Brodskij, Vassilij Aksenov, Aleksandr Solženicyn. Solženicyn kam im Februar 1974 nach Zürich ins Exil, zwei Jahre später hat er Zürich in Richtung Vermont wieder verlassen. Am 20. Februar 1975 trat er auch am Slavischen Seminar auf und hielt einen Vortrag auf der Basis von dreizehn zuvor schriftlich gestellten Fragen, der unter dem Titel Gespräch mit Slavistik-Studenten an der Universität Zürich in seine Werkausgabe aufgenommen wurde. Wie kam es zu diesem Auftritt?
Brang: Zunächst muss ich sagen, dass Solženicyn mich von Anfang an als Schriftsteller sehr interessiert hat. Ich habe mir, als Archipel Gulag erschien, 1974, sofort eine Kartothek zu den künstlerischen Verfahren angelegt, mit denen er dort arbeitet, Ironie, Metaphorisierung etc. Ich kannte also sein Werk sehr gut, über die Krebsstation hatte ich zuvor im Fernsehen Auskunft gegeben. Er kam nach Zürich, wir hatten zunächst keinen Kontakt mit ihm, aber es hat sich dann doch eine Verbindung ergeben, dadurch, dass Frau Bankoul in der russisch-orthodoxen Gemeinde sehr engagiert war, sie hat Solženicyn in Zürich auch etwas betreut. Frau Bankoul brachte die Botschaft, dass er bereit sei, im Seminar aufzutreten – allerdings unter gewissen Bedingungen. Eine Bedingung war, dass dies nicht öffentlich bekannt gemacht wird, eine zweite, dass keine Aufzeichnungen gemacht werden, eine dritte, dass ihm vorher Fragen schriftlich eingereicht werden. Frau Bankoul und ich haben daraufhin 13 Fragen formuliert und dann Mundpropaganda gemacht. 60 Studenten kamen, der Seminarraum am Zeltweg 63 war prallvoll. Ich fing Solženicyn vor dem Hause ab und fragte ihn, ob ich ihn mit Aleksandr Isaevič ansprechen dürfe, ich durfte. Während des Vortrags merkte er, dass jemand ein Diktaphon eingeschaltet hatte, er hörte sofort auf und drohte, er würde nicht weitersprechen, wenn das Aufnahmegerät nicht abgeschaltet werde.
Sasse: Was war Ihre dringlichste Frage an Solženicyn?
Brang: Meine erste Frage war die, die mich persönlich am meisten interessierte, nämlich, warum er Archipel Gulag den Versuch einer künstlerischen Bewältigung (Opyt chudožestvennogo issledovanija) genannt hat. Seine Antwort war, dass die Kunst eine andere und intensivere Wirkung ermögliche.
Sasse: Hat er nach dem Vortrag weitere Fragen beantwortet?
Brang: Nein, das nicht. Er ist sofort verschwunden. Er hatte Angst, dass KGB-Agenten dort sitzen könnten. Bemerkenswert ist, dass auch die ihm gegenüber kritischen Studenten sich nach der Begegnung von seiner Persönlichkeit sehr beeindruckt zeigten.
Sasse: Sie hatten noch viele andere Begegnungen mit sowjetischen bzw. russischen Emigranten in Zürich. Sie haben mir vorhin ein Foto gezeigt mit Roman Jakobson, das vor Ihrem Wohnhaus in Forch entstanden ist...
Brang: Roman Jakobson hat 1974 in der Aula der Universität einen Vortrag über Kindersprache gehalten. Er hat damals alle überrascht mit seinem frei auf Deutsch gehaltenen Vortrag, in einer Sprache, von der er behauptete, dass er sie über Jahre nicht gesprochen habe – er kam ja aus Amerika hierher. Als wir im Juli 1974 einen Seminarausflug nach Einsiedeln machten, hat er sich zu uns gesellt. Er wohnte zeitweise dort.
Sasse: Sie begannen 1960 mit ca. 10 Studierenden, 1972, nach der Einrichtung des Faches Osteuropäische Geschichte, waren es schon 75, zur Zeit der Perestrojka waren es 172, heute sind es ca. 300. Heute haben wir neben den philologisch Interessierten viele Muttersprachler, Secondos oder Emigranten, die ihre eigene Kultur oder die ihrer Eltern studieren wollen. Was waren die hauptsächlichen Motivationen in den 1960er bis 1980er Jahren?
Brang: Ja, Emigranten hatten wir nicht, höchstens einzelne aus Jugoslawien, dann nach 1968 kamen einige aus der Tschechoslowakei. Unsere Studenten, das waren alles Schweizer, motivierte Schweizer Studenten und besonders Studentinnen, die sich aus verschiedenen Gründen für das brotlose Fach interessierten. Die einen hatten eine russische Grossmutter, andere, wie Ilma Rakuša, begeisterten sich für Dostoevskij, wieder andere wollten aus der Norm ausbrechen, sie hat das Exotische gereizt.
Sasse: Was war Ihre eigene Motivation, Slavistik zu studieren?
Brang: Das kann ich gern erzählen, und ich erzähle es erst zum zweiten Mal ausführlich. Ich habe öfters berichtet, ich hätte in Amerika angefangen, Russisch zu lernen, aber das stimmt nicht so ganz. Ich war 1943 zum Nachrichtennahaufklärer für Englisch ausgebildet worden. Das sind Leute, die sich mit dem Funkgerät an die feindlichen Linien nahe heranarbeiten, um den Sprechfunk abzuhören. Es war mein Glück, dass ich zu einer solchen Truppe kam. Mein erster Einsatz war in Frankreich, Ende 1943 wurde unsere Division in die Ukraine verlegt. Wir waren dann nur einige Tage dort, wurden sehr bald wieder zurückgeschickt, der Leutnant des kleinen Trupps von Englischdolmetschern, drei bis vier Mann, hat darauf bestanden. Ich habe noch heute in meinen Soldbuch einen kleinen Zettel, auf dem steht, dass man zum Ersatztruppenteil (nach Meißen) zurückgesandt werden muss, d.h. an einer Front, wo man nicht gemäss seiner Ausbildung gebraucht wird, darf man nicht eingesetzt werden. Wäre jenem Leutnant das damals nicht gelungen, säße ich heute nicht hier.
Sasse: Haben Sie in der Ukraine, mitten im Krieg, begonnen, sich für Russisch zu interessieren?
Brang: Ja, ich habe sofort angefangen, mich für die Sprache und die Schrift zu interessieren, habe meiner Mutter am 3. Oktober 1943 geschrieben, mit Feldpost: »Besorge mir bitte ein gutes russisches Lehrbuch«, eine etwas anspruchsvolle Forderung… Und am nächsten Tag habe ich dann begonnen, kyrillische Buchstaben zu schreiben, das heißt, mich hat das Russische auch wegen der Exotik interessiert – eine neue, ganz andere Sprache! Zudem hatte ich einen Freund in Meißen, der konnte Russisch. Und dann bin ich in Kriegsgefangenschaft aus Südfrankreich über Afrika nach Amerika verpflanzt worden. In Ruston, in Louisiana, habe ich zunächst das schlechte Lehrbuch von Bubnow in der Lagerbibliothek vorgefunden und mich in die Grammatik eingearbeitet. Dann hat man uns versetzt nach Middletown, Pennsylvania, und dort wurde ich mit meinen Sprachkenntnissen Clerk im Lageroffice. Über die amerikanischen Lageroffiziere habe ich mir die Pravda besorgen lassen und mit den grammatischen Grundkenntnissen, die ich im Lager in Ruston La. erworben hatte, eine Sprachlehre und ein Wörterverzeichnis zusammengestellt. Die Offiziere besorgten mir schliesslich das Russisch-Englische Wörterbuch von Glowinsky.
Sasse: Haben Sie nach Ihrer Entlassung gleich Slavistik studiert?
Brang: Als ich im April 1946, direkt nach der Entlassung, in Frankfurt am Main zu studieren begann, Anglistik, Germanistik, zeitweise Romanistik, gab es dort noch keine Slavistik – wie leider auch heute wieder. Aber im Indogermanischen Seminar standen anderthalb Laufmeter slavische Bücher. Und es war ein Lektor da, das war Viktor Leontovič, der ein Buch über die Geschichte des Liberalismus in Russland geschrieben hatte, er bekam an der Uni einen juristischen Lehrauftrag. Er gab aber auch einen Kurs deutsch-russische Übersetzungsübungen, und an diesem Kurs habe ich vom dritten Semester an teilgenommen. Wir waren fünf Leute. Ab 1947 kam als Lektor für Russisch und Altkirchenslavisch Robert Günther hinzu, ein Wolgadeutscher, Schüler von M.N. Peterson. Im Übrigen habe ich gleich eine Sprachlehrerin in Frankfurt gesucht und gefunden, das war Elena Andreevna Januševskaja. Sie war die Frau eines sowjetrussischen Diplomaten, war 1937 über die Türkei nach Belgien gekommen und dann während des Zweiten Weltkrieges nach Frankfurt. Sie gab dort dem Nazi-Oberbürgermeister Krebs Russischkurse, aber nach dem Krieg auch mir [lacht]. Und ich nahm dann von 1946 bis 1952 »eisern« jeden Dienstag von zwölf bis zwei bei ihr Konversationsunterricht.
Sasse: Wo und wann haben Sie dann mit dem Slavistikstudium begonnen?
Brang: Weil es in Frankfurt in absehbarer Zeit keine Slavistik geben sollte, bin ich 1949 nach Marburg gegangen zu Tschižewskij. Leider war Tschižewskij gerade dabei, nach Harvard zu wechseln. Ich habe ihn aber zweimal in Marburg besucht, sein Zimmer war voll mit den berühmten Zettelkästchen. Dann habe ich bald doch den Wechsel nach Marburg vollzogen und bei Ludolf Müller studiert.
Sasse: Wie haben Sie Ihr Studium finanziert, hatten Sie ein Stipendium?
Brang: Nein, Stipendien gab es nicht, ich war Werkstudent. Ab 1949 habe ich dreieinhalb Jahre in einem Presseinstitut gearbeitet. Ich hatte das Ressort Osteuropa, las die Pravda, die Izvestija und was man an lokalen Zeitschriften aus der Sowjetunion bekam, und die Zeitungen der DDR. Ich hatte im Institut ein Feldbett, schlief dort Montag auf Dienstag und fuhr jeweils Mittwoch Vormittag nach Marburg zum Studium.
Sasse: Hatten Sie zu Tschižewskij nach seinem Weggang nach Harvard noch weiteren Kontakt?
Brang: Von Marburg aus habe ich einige Korrespondenz mit ihm geführt (bzw. er mit mir). Später habe ich ihn nach Zürich eingeladen, und da hat er einen völlig missratenen Vortrag gehalten, obwohl er sich im Thema des Vortrags vorzüglich auskannte, nämlich Die Emblematik und die slavischen Literaturen. Ich holte ihn im Bodmerhaus, dort hatten wir ihn unterbringen können, zum Vortrag ab, und da sagte er: »Mein Manuskript lasse ich hier, ich werde erzählen, dass es in Basel geblieben ist.« Und nun gingen wir und ich dachte: »Na ja, wenn er meint, er kann den Vortrag frei halten, bitte schön.« Und dann wurde der Vortrag schlecht und zwar, weil er viel an die Tafel schrieb, seinen Zuhörern den Rücken zukehrend, und dazu noch undeutlich sprach. Ich hatte die Trommel gerührt für Tschižewskij, er ist der Spezialist für Emblematik, aber der Vortrag erfüllte bei weitem die Erwartungen nicht. Und ich stand da und wusste, das Manuskript liegt drüben im Bodmerhaus. Na ja, ich durfte ihn ja nicht verraten. Einer seiner skurrilen Einfälle.
Sasse: Als ihre grösste Fördererin haben Sie oft Margarete Woltner erwähnt…
Brang: Ja, Frau Woltner, meiner ›Habilitatrix‹, verdanke ich sehr, sehr viel, besonders in den Gesprächen mit ihr habe ich viel gelernt. Sie hatte immer Zeit für ihre Assistenten. Sie hat mir Korrekturarbeiten bei Vasmers Etymologischem Wörterbuch vermittelt. Ich bekam dafür zwar nur Pfennige, habe aber sprachlich viel gelernt. Und sie hat mich früh auch Korrektur lesen lassen für Beiträge in der Zeitschrift für Slavische Philologie. Später, 1967, hat sie die Herausgeberschaft der Zeitschrift an Herbert Bräuer übergeben wollen, der Vasmer-Schüler war, aber Bräuer meinte, er werde sie nur übernehmen, wenn er die Herausgabe mit mir teilen könne, – er Sprache, ich Literatur. So hat sich das ergeben, dass ein Teil der Redaktion nach Zürich ging.
Sasse: Sie gehören zu der seltenen Spezies der Vollslavisten, womit ich hier meine, dass Sie sowohl literatur- als auch sprachwissenschaftlich gelehrt und auch geforscht haben und zudem mehrere Slavinen bedienen mussten. Wie haben Sie diesen Spagat in der Lehre bewältigt?
Brang: Mein besonderes Schicksal war, dass ich, vornehmlich durch meine intensive Beschäftigung mit Karl Kraus, gelernt hatte, die Literatur von der Sprache her anzugehen. Und deshalb erscheint mir die Trennung von Sprache und Literatur immer als etwas Bedauerliches. Was die Veröffentlichungen anbelangt, so ist das Verhältnis Literatur : Sprache bei mir etwa siebzig zu dreißig. Man sagt, ich bin ein Allrounder, aber ein solcher konnte man schon damals nicht wirklich sein, und heute kann man es natürlich noch sehr viel weniger. Ich konnte und musste das Grundwissen vermitteln, das Sprachwissenschaftliche war stark historisch ausgerichtet. Die russische Literatur habe ich von den Anfängen bis in die Neuzeit gelehrt, da war ich gründlich bewandert. In der polnischen Literatur, da musste man von Gipfel zu Gipfel gehen und konnte sich in die vielen interessanteren Texte am Rande nicht so vertiefen. Die Überblicksvorlesungen und die Interessen der Studierenden verlangten, dass ich mich in eine ganze Reihe von Slavinen einarbeitete, das machte Mühe, aber ich lernte viel und hätte Projekte wie Die Schweiz in Gedichten der Slaven oder die Kommentierte Bibliographie zur slavischen Soziolinguistik ohne solche Einarbeitung gar nicht verwirklichen können.
Sasse: In der Linguistik haben Sie sich viel mit soziolinguistischen Themen befasst. Wo würden Sie sich in der Literaturwissenschaft situieren?
Brang: Ich habe als Aufgabe der Slavischen Philologie immer die Erforschung der slavischen Sprachen und Literaturen vor dem Hintergrund ihrer Geschichte und Kulturgeschichte betrachtet. So sind auch meine Arbeiten auf dem Gebiet der Literatur oft gesellschaftlich ausgerichtet (Das Duell... oder Mensch und Tier in der russischen Literatur). 1963 oder 1964 veröffentlichte ich einen längeren Bericht über den russischen Beitrag zur literarisch-soziologischen Forschung im Jahrbuch für allgemeine Kunstwissenschaft, er ist 1973 auch in englischer Übersetzung erschienen. Ich war erfreut, als Thomas Grob kürzlich erklärte, er habe zuerst gar nicht verstanden, was diese ganze kulturhistorische Wende in der deutschsprachigen Slavistik soll. Er habe das eigentlich bei mir schon studiert. Aber ich war früh auch an der literarischen Form interessiert, meine Habilschrift zur russischen Erzählung im späten 18. Jahrhundert, an der ich seit 1955 arbeitete, nahm bewusst die kleinen Formen ins Visier – weil Formuntersuchungen in der Sowjetunion damals ja verpönt waren. Wenig später wurden dann im Westen die Arbeiten der russischen Formalisten der 20er Jahre veröffentlicht.
Sasse: Die Zeit ihrer Forschung und Lehre war die Hochzeit des Strukturalismus, der Kultursemiotik, der nicht weit entfernten Konstanzer Schule und des beginnenden Poststrukturalismus, der ja z.B. prominent zwischen 1964 und 1971 von Paul de Man in Zürich vertreten wurde. Wie würden Sie sich in diesen methodischen Debatten verorten?
Brang: Ja, zu Paul de Man habe ich eigentlich normale kollegiale Beziehungen gehabt, aber wir hatten nicht viele Berührungspunkte, das Seminar für Vergleichende Literaturwissenschaft war damals auch nicht im gleichen Haus. Sein potentieller Nachfolger auf dem Lehrstuhl, Peter Szondi, hat auf dem Sofa gesessen, wo Sie jetzt sitzen, kurz vor seinem Selbstmord, ich war in der Kommission Nachfolge de Man. Wir haben auf sein Kommen gehofft – aber wenige Wochen später schied er aus dem Leben. Im weiteren gab es mit der Komparatistik zu meiner Zeit nicht viel Kontakt, aber als Slavisten arbeiteten wir ohnehin in hohem Masse komparatistisch, viele Lizentiatsarbeiten und eine Reihe von Dissertationen befassten sich mit Rezeptions- und Übersetzungsgeschichte.
Sasse: Lässt sich Ihr kultursoziologischer Ansatz mit der Kultursemiotik in Verbindung bringen?
Brang: Die kultursemiotischen Theorien von Lotman und seiner Schule haben wir selbstverständlich diskutiert, ihre Anwendung z.B. auf den Evgenij Onegin studiert, sie bei der Interpretation besonders von Gedichten benutzt. Einer meiner kritischen Vorbehalte gegenüber Lotman und mancher anderen, mit Verve vertretenen neuen Richtung war und ist, dass sie, was ihr gutes Recht ist, meist solche Texte wählen, an denen sich ihre Thesen ausnehmend gut beweisen lassen. So etwa wählt Lotman für die Erläuterung der Rolle der povtory Leonid Martynovs Gedicht O zemlja moja, wo sie extrem gehäuft erscheinen. Das schwächt natürlich den Allgemeingültigkeitsanspruch der jeweiligen Methode, nicht bei allen Texten ist ihr Ansatz fruchtbar.
Sasse: Im Grunde sind Sie jemand, der von den Texten ausgeht, vom Material, der auf einzelne Begriffe stößt, sich dann anschaut, welche Rolle diese im Werkzusammenhang spielen. Das ist ein sehr material- und begriffsbezogener Arbeitsprozess...
Brang: Ja, das wohl. Schon von meinem Studium bei Ludolf Müller her war ich gewohnt, sehr stark textbezogen zu arbeiten. Und es scheint mir auch jetzt noch gefährlich, wenn man über Literatur redet, ohne sich eine genaue Textkenntnis erarbeitet zu haben.
Sasse: Lassen Sie uns noch ein wenig über Ihre Forschung sprechen. 1988, kurz vor Ihrer Pensionierung, haben Sie eine wegweisende Studie zur Deklamationskunst in Russland publiziert. Sie beziehen sich darin auf Sergej Bernštejns Arbeiten zur Deklamation, die u.a. auf einer umfassenden von ihm selbst angelegten Phonothek basierten. Hatten Sie die Möglichkeit, sich dieses Material anzuhören? Haben Sie selbst solche Studien unternommen? Haben Sie selbst auch Phonogramme angefertigt?
Brang: Nein, keineswegs. Das war ja noch die Zeit, als die Sowjetunion existierte und es war selbst für Russen kaum möglich, an diese Materialien heranzukommen. Ich habe in Russland im Druck zugängliches Material über Bernštejn gesammelt, habe mit Lev Šilov korrespondiert, der die Bernštejnschen Materialien aus den 1920er und frühen 30er Jahren aufgearbeitet hat und auf Schallplatten herausgab (Govorjat pisateli). Die haben wir im Seminar dann auch bei Texten von Blok und Majakovskij und Puškin benutzt. Das Interesse für die mündliche Existenz von Texten war bei mir aber ausgedehnt, ich bezog soziokulturelle Fragen wie die der allgemeinen Entwicklung der Vortragskunst oder ihrer pädagogischen Vermittlung ein. Dieses Interesse war übrigens nicht zuletzt biographisch bedingt. Im Vorwort zur russischen Ausgabe meiner Arbeiten zum Zvučaščee slovo, die gerade eben erschienen ist, erwähne ich, dass ich schon als Fünfjähriger Gedichte aufgesagt habe, weil mein Vater Schauspieler war, der hielt mich dazu an. Das erste Gedicht, an das ich mich erinnere, ist das Abendlied von Matthias Claudius. Dieses Interesse für das Mündliche hat wohl auch meine Lehrtätigkeit begleitet. Ich habe immer Wert darauf gelegt, dass die Studierenden die Texte wirklich laut so lesen, dass diese Texte leben und dass sie die Texte erleben. 1990 habe ich einen Brief von einem meiner ehemaligen Schüler bekommen, Niklaus Largier, der jetzt in Berkeley Germanistikprofessor ist. Er schrieb, er habe bei mir gelernt, dass man Texte sprechen muss und dass man über das Mündliche zu ihrem Verstehen kommt.
Sasse: Die russische Deklamationskunst ist ja eine sehr eigenwillige, getragen, erhaben, ein Singsang, der manchmal an orthodoxe Kirchengesänge erinnert. Bei den vor kurzem erschienenen alten Aufnahmen (Stimmen russischer Dichter) von Blok, Gumilev, Majakovskij, Kručenych, Achmatova, Mandel’štam kann man das sehr gut hören. Was hat es mit dieser Tradition auf sich?
Brang: Eine allgemeine Aussage über die russische Vortragskunst ist insofern möglich, als man in Russland bis in die jüngste Zeit am Reim festgehalten hat, was die Gesanglichkeit, die napevnost’ förderte. Im Übrigen muss man nach Perioden und nach einzelnen Dichtern unterscheiden. Von Puškin bis zu Turgenev herrschte die napevnost’ vor, dann kam ein »Sprechstil« auf, bei den Symbolisten gab es das »symbolistische Flüstern«, die simvolističeskie šopoty, und die Revolutionszeit brachte das ihr eigene Pathos. Brodskijs ›Kirchengesang‹ ist ein Personalstil. Nur schwach ausgebildet war in Russland, wie schon Ėjchenbaum bemerkte, die »Kammerdeklamation«, der inhaltsbezogene leise Vortrag. Die kultur- bzw. literaturvergleichende Deklamationsforschung ist ein hochinteressantes Gebiet, über das ich noch gern weiter forschen würde, wenn mir dazu Zeit bliebe. Ich habe eine grosse Sammlung von Schallplatten mit literarischen Texten, aber heute hat man ja elektronische Sammlungen wie die Antologija golosov poėtov zur Verfügung oder für das Deutsche die Lyrikstimmen des Hörbuchverlags.
Sasse: In Ihrer Studie widmen Sie sich insbesondere Puškin, Gogol’, Dostoevskij und auch Blok. Von Blok existieren Aufnahmen, mit denen Sergej Bernštein gearbeitet hat. Puškin, Dostoevskij und Gogol’ lebten zu einer Zeit, in der es technisch unmöglich war, Stimmen aufzuzeichnen. Wie sind Sie mit diesem Problem umgegangen, dass Sie im Grunde nur Texte zur Verfügung hatten, die die Deklamation beschrieben haben oder literarische Texte, in denen Deklamatoren aufgetreten sind?
Brang: Ja, das ist ja klar, dass wir da angewiesen sind auf die Berichte der Zeitgenossen oder auf die Aussagen der betreffenden Dichter selbst. Aber diese Zeugnisse sind zum Teil sehr reich, bei Puškin ist da sehr viel zu finden, auch bei Gogol’. Gogol’ ist bekanntlich ein Dichter, dessen Texte mündlich entstanden sind. Bei Puškin habe ich auch an den Texten zeigen können, dass er sie mündlich ›komponierte‹.
Sasse: In Ihrem Buch, das 2002 bei Böhlau herauskam und seit 2006 auch in russischer Übersetzung vorliegt, beschäftigen Sie sich mit dem Vegetarismus in der russischen Kultur und Literatur. Das ist ein recht ungewöhnliches und bis dato völlig unerforschtes Thema. Sie schreiben in der Einleitung, dass Sie schon 1977 in der Leninbibliothek in Moskau die Zeitschrift Vegetarianskoe obozrenie entdeckten. Ab wann haben Sie sich wissenschaftlich mit dem Vegetarismus beschäftigt und warum?
Brang: Auch dieses Forschungsinteresse war biographisch bedingt. Ich bin von Jugend auf vegetarisch erzogen worden, als Laktovegetarier, ich bin ein, wie das russisch heißt, ein potomstvennyj vegetarianec, also einer, der den Vegetarismus ererbt hat – sozusagen. Als Slavist habe ich natürlich gewusst, dass der späte Tolstoj Vegetarier war. Aber dass es vor dem Ersten Weltkrieg in Russland eine vegetarische Bewegung gegeben hat, der Schriftsteller und bildende Künstler angehörten, davon hatte ich keine Ahnung. 1977 blätterte ich in den Katalogen der Leninbibliothek auf der Suche nach irgendeinem Vestnik, dabei bin ich ganz zufällig auf den Titel Vegetarische Rundschau, Vegetarianskoe obozrenie gestossen. Ich habe dann von 1977 an Text- und Bildmaterial zum Thema Vegetarismus gesammelt. Nach der Wende habe ich der Leninbibliothek mehr als 400 von mir im Laufe der Jahre zusammengetragene Zürcher Phil.I-Dissertationen geschenkt, im Tausch bekam ich Xerokopien der drei vegetarischen Zeitschriften, die in Russland erschienen waren. Mit der Zeit wurde daraus ein kleines Archiv des Vegetarismus in Russland, es ist inzwischen der Zürcher Zentralbibliothek übergeben. Bei der Entstehung des Buches Ein unbekanntes Russland habe ich übrigens nicht zum ersten Mal erlebt, wie sich Negatives als Positives erweisen kann. Ich wollte 2001 nochmals nach Russland reisen, für 10 Tage, um in der Leninbibliothek noch einige Lücken in meiner Darstellung zu schliessen. Die Leiterin der Auslandsabteilung teilte mir aber mit, dass die Leninbibliothek leider wegen remont geschlossen sei. Ich musste nach Petersburg ausweichen, war darüber zunächst gar nicht glücklich. In Petersburg bin ich dann in der Russischen Akademie der Künste (RACh) kurz vor dem Druckbeginn noch auf hochinteressante Quellen gestossen, auf einen Entwurf für einen vegetarischen Lehrstuhl in Russland, auf die Beziehungen zwischen Bechterev und Repin und mancherlei anderes.
Sasse: Wie waren die Reaktionen in Russland auf die Publikation des Buches? Zwar gehörten vegetarische Vorstellungen zur frühen sowjetischen Utopie, in der späteren Sowjetunion war Vegetarismus jedoch tabuisiert.
Brang: Ein Pfeiler der Bewegung war Tolstoj, die Tolstojaner aber wurden in der Sowjetunion zuerst geduldet und dann verfolgt. Ende der 1920er Jahre kamen einige von ihnen nach Solovki. Da war das Thema für das offizielle Russland vom Tisch. Man sprach auch nicht mehr von vegetarischen Gaststätten, sondern von dietičeskie stolovye. In Russland ist der Vegetarismus im Grunde bis heute nicht sehr bekannt, es gibt fast keine Reformhäuser und nur recht wenige vegetarische Gaststätten. Das Echo auf mein Buch? Die Tierschutzbewegung und die Vegetarier zeigten sich nach der Publikation der russischen Ausgabe begeistert, sie haben mir geschrieben, es sei für sie eigentlich beschämend, dass ein Ausländer ihnen ein Stück ihrer Kultur zurückbringen müsse. Die von mir ›wiederentdeckten‹ Texte und das ganze Buch wurden ins Internet gestellt. Auch die Literaturwissenschaft hat es zur Kenntnis genommen, es gab eine Rezension in Novoe literaturnoe obozrenie.
Sasse: Eines ihrer konstanten Forschungsthemen waren die kulturellen und literarischen Wechselbeziehungen zwischen Russland und der Schweiz. Das jetzige Slavische Seminar befindet sich in jenem Quartier, in dem die russischen Studenten und Studentinnen der 1860er Jahre, die Anarchisten, Nihilisten, Revolutionäre im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jh. vorzugsweise wohnten. Gegenüber vom Slavischen Seminar wohnte Vera Figner, ein paar Meter weiter Sabina Spielrein. Hat die unmittelbare Umgebung Sie zu diesem Thema inspiriert?
Brang: In dieser Umgebung sind wir ja erst seit 1981. Nein, schon meine Jungfernrede in der Fakultät hatte ich 1961 über Karamzins Verhältnis zur Schweiz gehalten, von Anfang an hat mich alles, was die Beziehungen zwischen der Schweiz und den Slaven betrifft, emotional gepackt. Das heißt, wenn ich irgendwo ein Gedicht fand, in dem ein slavischer Dichter sich über seine Schweizer Reise äußerte oder wenn die Schweiz als amönische Landschaft beschrieben wird, hat mich das interessiert. Auch hier habe ich durch langes Sammeln einen Fonds zusammengebracht. Auch mein Kollege Carsten Goehrke war von Anfang an sehr aufgeschlossen für die Probleme der schweizerisch-slavischen Beziehungen, wir taten uns zusammen, 1985 haben wir begonnen, erste Besprechungen und Vorkonferenzen durchzuführen, und während 6,5 Jahren, 1988-1994, lief dann ein Projekt, der Nationalfonds bewilligte dafür insgesamt etwa 1'4 Mill. CHF. Es wurde eine Datenbank angelegt, von der ich im Augenblick leider nicht weiss, wieweit sie noch konvertierbar ist, es erschienen vier Forschungsbände. Dieses Projekt hat einen großen Teil meiner Zeit gefordert.
Sasse: Während unseres Gespräches habe ich versucht herauszufinden, nach welchem Prinzip Sie Ihre Bücher ordnen. Tolstoj steht oben links, nicht weit entfernt davon Pasternak. Alphabetisch ist es jedenfalls nicht…
Brang: Nein, im Prinzip chronologisch. [Steht auf und geht zum Bücherregal] Hier fängt es an, Altrussisch, hier bis ins 18. Jahrhundert. Und hier steht Karamzin, sogar die Geschichte, die Istorija gosudarstva rossijskogo. Was man so alles gekauft hat… Teils aus Leidenschaft, teils weil man ein Buch, das im Seminar vorhanden ist, auch selbst haben wollte, um das Seminarexemplar den Studierenden zu überlassen. Ausserdem kann man in eigenen Büchern Anstreichungen machen… Viele meiner Bücher habe ich schon in die Zentralbibliothek gegeben. Das Durcheinander? Ich kann Ihnen sagen, die Kamera läuft [lacht], ich bin froh, dass ich meine Frau gelegentlich fragen kann, du, wo steht denn der, wo habe ich den wieder hingestellt.
Sasse: Auch wenn Sie in Zürich als Einmannbetrieb die ganze Breite des Fachs vertreten mussten, dann gab es doch sicherlich einen Autor, den Sie mehr mochten als andere?
Brang: Ja.
Sasse: Und, wer war das?
Brang: Ja, Puškin [lacht]. Brauchen wir nicht lange zu überlegen.
Sasse: Sagen Sie doch kurz warum.
Brang: Muss man das rechtfertigen? In den letzten Sätzen der Dissertation habe ich geschrieben, dass Puškin ein Universum ist, er ist so vielseitig, aber immer ist da auch diese gebändigte Form, hinter der man die unerschöpfliche Energie spürt.
Sasse: Herr Brang, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.