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Das Projekt hatte zum Ziel, Sergej Tret'jakovs (1892-1937) topografische und ethnologische Arbeiten (Reiseskizzen, Zeitungsartikel, Fotographien, Filmskripte) im Kontext der Raumpoetik der postrevolutionären Avantgarde und in Wechselbeziehung mit einer sich immer deutlicher herausbildenden sowjetischen Geopolitik und Ethnologie zu untersuchen.
Sergej Tret'jakov hat in den 1920er und 1930er Jahren unterschiedliche Genres und Schreibweisen entwickelt, die sich mit dem sowjetischen (Moskauer Umgebung, Kaukasus, Sibirien) und dem aussersowjetischen Raum (Deutschland, China, Tschechoslowakei) auseinandersetzen. An diese Reisetexte, Fotografien und Filmskripte hat er zentrale poetologische Konzepte gekoppelt, wie das der Faktographie, Operativität oder Metapoetik. Dabei ging es ihm vor allem darum, die Perspektive des Touristen und Raum-'Konsumenten' in die eines Produzenten und Mitgestalters zu verwandeln.
Das Projekt hat die Stationen dieser Entwicklung unter zwei Aspekten untersucht: Zum einen wurde die Tret'jakovsche Faktographie und Operativität in den Kontext der postrevolutionären topografischen Poetik gestellt, und zwar innerhalb der von Tret'jakov mitbegründeten Gruppe der LEF (Linke Front der Künste) und ausserhalb, u.a. in Kontrast zu Autoren wie Ossip Mandel'štam und Isaak Babel' und im Vergleich zu den staatlichen Auftragsreisen in der Sowjetunion der 1930er Jahre. Zum zweiten wurde Tret'jakovs Reise- und Lebenspoetik in Wechselbeziehung mit geopolitischen und ethnologischen Diskursen der 1920er und 1930er Jahre betrachtet. Gerade an der Verbindung von Ethnologie und Poetik sowie Politik und Poetik lässt sich ablesen, wie ethnologische Verfahren, u.a. das der teilnehmenden Beobachtung, als poetische Verfahren dienen, und wie diese wiederum politisch instrumentalisiert werden. Die Verbindung von Raum konzipierender Poetik und Geo-Politik bildete auch die Crux in der Beschäftigung mit spätavantgardistischen Poetiken und deren gleichzeitiger Usurpation und Ablehnung durch die totalitäre Ästhetik.
Das Projekt, aus welchem eine Monografie, eine Edition der topografischen Schriften und zwei internationale Workshops hervorgegangen sind, dient in diesem Zusammenhang auch einer Resitutierung Tret'jakovs zwischen Avantgarde und Sozrealismus.
Am 29.-30.5.2014 fand im Rahmen des Projektes ein Workshop zur Rezeption von Sergej M. Tret'jakov statt. Ziel war es, erstmals deutschsprachige Wissenschaftler:innen, die sich mit dem querulantischen Futuristen beschäftigt haben, zu versammeln. Das Treffen hat eine punktuelle, aber durchaus repräsentative Bestandsaufnahme der bisher im deutschsprachigen Raum geleisteten Rezeption zentraler Ideen des Autors – von seinem dramatischen Schaffen über sein linkes Engagement bis hin zu seiner Faktografiekunst – vorgenommen. Mehr dazu auf der folgenden Workshopseite.
Die internationale Konferenz fand am 9. und 10. Oktober 2015 im Hauptgebäude der UZH und am Slavischen Seminar statt. Sergej M. Tret'jakovs umfangreiches Reiseschreibprojekt in Text und Bild war paradigmatisch für die Erkundung und Beschreibung der jungen Sowjetunion. Die Konferenz hatte zum Ziel, Tret'jakovs Konzept anhand von Fallstudien zu analysieren, zu kontextualisieren und in intermedialer Perspektive zu betrachten und mit ähnlichen Projekten anderer reisender Autoren, Fotografen und Filmemacher in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre zu vergleichen.
Die Konferenzbeiträge wurden in der Zeitschrift "Russian Literature" herausgegeben.
Weitere Informationen finden Sie auf dieserSeite zur Konferenz.
Sergej Michajlovič Tret'jakov (1892-1937) ist zwar für seine theoretischen Schriften, seine Theaterstücke und seine faktografische Prosa bekannt, nicht jedoch für seine Gedichte, die er in den 1910er und 1920er Jahren verfasst hat. Sie erscheinen von 1913 bis Ende der 1920er Jahre, so dass seine Lyrik mehr als die Hälfte seines Schaffens begleitet – sie flankiert seine Theaterstücke und Reisereportagen. Diese Texte sind auch für die Ausbildung von Tret'jakovs Raumkonzeption grundlegend.
Das lange Festhalten an dieser Gattung deutet seine Lust am Bedienen verfügbarer (und noch auszudenkender) Formate an, darunter lyrischer Subformen, die von Revolutions- und Kriegsgedichten über Reise- und Dinggedichte bis zu erzieherischen Poemen reichen. Die Form des Gedichts ermöglicht eine Fokussierung auf die Arbeit am Wort, und zwar radikaler als in Prosa. Auf dieser Plattform bildet sich eine Verfremdungspoetik heraus, die sowohl der futuristischen als auch der faktografischen Innovationsdoktrin entsprochen hat. Innerhalb dieser Gattung lässt Tret'jakov jene Facetten seines poetologischen Programms überborden, die in diesem Maße in Theaterstücken und in der Prosa weniger adäquat gewesen wären: Neologismen und Dialektismen, synästhetische, onomatopoetische und schriftbildlich-visuelle Figurationen, grammatikalische Brüche, lexikalisch und morphologisch 'zertrümmerte' Wörter und eine Metaphorik, die die Texte der Referenzhaftigkeit enthebt, selbst wenn es sich um Reise-, Stadt- und Landschaftsgedichte handelt.
Insgesamt umfasst Tret'jakovs lyrisches Werk neben Gedichten, die in Almanachen, Zeitungen und Zeitschriften verstreut sind, sechs Einzelpublikationen. Der 64seitige Band Jasnyš (1922) ist eine Rarität. Sein Abdruck wird auf dieser Seite – unter weitgehender Beibehaltung des ursprünglichen Druckbilds – einem breiten Publikum zur Verfügung gestellt. Nicht zuletzt ist die massenwirksame, öffentliche Wahrnehmung dieser Poesie fester Bestandteil ihres eigenen Programms gewesen.
Das Gedicht erfülle seinen angleichenden, menschenwürdigen Zweck, sobald es geschrieben oder gelesen wurde; es diene als Übung für Verfahren eines konstruktiven oder wohl eher konstruierenden Zugangs zum Wort: "Восприятие стиха – повторное преодоление материала, усвоение приёмов конструктивного подхода поэта к слову" (S. 5), schreibt Tret'jakov im Vorwort. Das Gedicht soll keine Ikone sein, das man anbetet, und es soll nicht lange existieren. Der Autor gibt den Besitzanspruch an der Originalität seiner Lyrik auf, sobald er sie ausgeführt hat. Um den Dichter besteht ohnehin kein Geniekult mehr, er sei nun ein Wortarbeiter und Wortkonstrukteur, ein Meister der Sprachschmiede in der Fabrik des Lebens: "Поэт – только словоработник и словоконструктор, мастер речековки на заводе живой жизни" (ebd.). Revolutionspathos und Verfremdungslust prägen offenbar Tret'jakovs Poetik von Anfang an.
Der gesamte Band als Download: Gedichtband Jasnyš (PDF, 864 KB)