Multilinguale Praktiken
Deutschrap wird häufig mit Künstler*innen in Verbindung gebracht, deren Migrationserfahrungen oder die ihrer Familien eine zentrale Rolle bei der Textproduktion spielen. Diese Annahme ist berechtigt, da Rap-Formationen wie Advanced Chemistry (Heidelberg) und das Rödelheim Hartreim Projekt (Frankfurt am Main) bereits in den späten 1980er/frühen 1990er Jahren die Debatte über Migration, Herkunft und Zugehörigkeit in dem Genre anstießen. Die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in Rap-Texten entwickelte sich jedoch nicht zwangsläufig parallel zu dieser Debatte. Beginnend mit Einflüssen aus dem Englischen und Französischen kamen später Türkisch und Arabisch hinzu. Seit den frühen 2010er Jahren sind auch slavische Sprachen ein integraler Bestandteil des deutschsprachigen Raps. Hierbei stellen vor allem Sub-Genres Gangsta- und Street-Rap für die Sprachwissenschaft besonders relevante Kategorien dar, da die Texte in den Genres oft spontan und mündlich produziert werden sowie den Anspruch einer sogenannten street credibility erheben, bei der idealerweise ein authentisches kolloquiales Register zum Einsatz kommen und das lyrische Ich dem faktischen Ich entsprechen muss.
Bereits vor dem kommerziellen Erfolg des Berliner Rappers Capital Bra (bürgerlich Wladislaw Balowazki) in den Jahren 2018/2019 gab es Rapper*innen mit einer slavisch-deutschen Sprachbiografie, z.B. Olexesh (bürgerlich Olexij Kosarev), Schwesta Ewa (bürgerlich Ewa Malanda) oder Toni der Assi (bürgerlich Toni Latinović). Der in Russland geborene und in der Ukraine sowie Deutschland aufgewachsene Capital Bra brachte jedoch nicht nur die slavischen Herkunftskulturen mit 13 Nummer-1-Charts-Hits in 12 Monaten in den Fokus des Genres, sondern machte auch Deutschrap endgültig zu einem Genre des popkulturellen Mainstreams.
Im Rahmen des Habilitationsprojekts von Aleksej Tikhonov sollen die Texte der populärsten Deutschrapper*innen aus jedem slavischen Zweig (Ost-, West-, Südslavia) korpuslinguistisch und stylometrisch analysiert werden. Im Zentrum dieser Untersuchung steht die Frage nach der Struktur und Funktionsweise der Mehrsprachigkeit dieser Texte sowie ihrer identitätsstiftenden Dimension unter besonderer Beachtung der slavischen Sprachen. Die ersten Pilotstudien (s. Publikationen) zeigen, dass die praktizierte Mehrsprachigkeit das Konzept einer Migrationsgesellschaft in eine postmigrantische Realität überträgt, in der neue hybride Identitätskonzepte verhandelt und definiert werden. Dabei erweitern die Konzepte die Vorstellung einer hierarchischen Sprachenkonstellation im multilingualen Kontext und beeinflussen nachhaltig die deutsche Jugendsprache. Die analysierten Texte sind besonders aufgrund ihrer hohen Frequenz an Code-Switching zwischen etwa zehn Sprachen außergewöhnlich und setzen das Konzept von Code-Switching an seine Grenzen, was die Frage nach einer sprachstatistisch messbaren Ausdifferenzierung zu Translanguaging aufwirft.
In der Projektkomponente zur Jugendsprache sollen YouTube-Kommentare vorwiegend von Vertreter*innen der Generation Z für den Vergleich herangezogen werden. Auf diese Weise werden die aus den Lyrics gewonnenen Ergebnisse verifiziert und das tatsächliche Auftreten slavischer Einflüsse auf morphologischer, syntaktischer und lexikalischer Ebene in spontan produzierten Äußerungen im Internetregister untersucht.
Publikationen
"Translanguaging and Reflection on Language Realities in the Lyrics of German Rap Artists with an East Slavonic Background in the 21st Century". In: Deganutti, M. & Domokos, J. (Hrsg.): Special Issue on Multimodal Code-Switching, Journal of Károli Gáspár University of the Reformed Church in Hungary, Faculty of Humanities and Social Sciences, Vol. 16, No. 3, Károli Gáspár University of the Reformed Church in Hungary, Budapest 2024.
https://btk.kre.hu/index.php/2-uncategorised/2280-orpheus-noster-16-evf-3-sz-2024Polish and Russian in German Rap: A corpus study on language contact and social semantics. In: Lewandowska-Tomaszczyk, B. & Trojszczak, M. (Eds.). Language in Educational and Cultural Perspectives, Springer International Publishing, Basel 2023 https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-38778-4_16
- Processing of the Russian war against Ukraine in the lyrics of Ukrainian rappers in Ukraine, Germany, and Russia. In: Proceedings of the 29th International Conference of Europeanists: Europe’s Past, Present, and Future: Utopias and Dystopias, Columbia University & University of Iceland, Reykjavik 2023 https://aleksejtikhonovcom.files.wordpress.com/2023/08/aleksej_tikhonov_rap_and_war_ua_ger_rus.pdf
- Deutschrap und der russische Krieg in der Ukraine. In: dekoder, Berlin 2023 https://www.dekoder.org/de/gnose/deutschrap-capital-bra-olexesh-krieg-ukraine
- Der Krieg spaltet: (un)klare Aussagen in der russischen und ukrainischen Rapszene | The War Divides: (Un)Equivocal Statements in the Russian and Ukrainian Rap Scene. In: ZOiS Spotlight 19/2022. Zentrum für Osteuropa und internationale Studien, Berlin 2022 https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-spotlight/der-krieg-spaltet-unklare-aussagen-in-der-russischen-und-ukrainischen-rapszene
- Post-Punk in Belarus und Russland: Lyrische Kritik am politischen System oder postsowjetischer Nihilismus? | Post-Punk in Belarus and Russia: Lyrical criticism of the political system or post-Soviet nihilism? In: ZOiS Spotlight 2/2022. Zentrum für Osteuropa und internationale Studien, Berlin 2022 https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-spotlight/post-punk-in-belarus-und-russland-lyrische-kritik-am-politischen-system-oder-postsowjetischer-nihilismus
- Rap auf Tatarisch: die Abkehr vom Russischen? | Rap in Tatar: Turning Away from Russian? In: ZOiS Spotlight 34/2021. Zentrum für Osteuropa und internationale Studien, Berlin 2021 https://www.zois-berlin.de/publikationen/rap-auf-tatarisch-die-abkehr-vom-russischen
- Multilingualism and identity in German Rap lyrics in the 21st century: Research on artists with Polish and Russian background. In: Gröndahl, S. & Dulić, T. (ed.): Multiethnica, Uppsala 2020
Wissenschaftskommunikation:
- Hauptgast des Podcasts zum Thema “Russisch Rap in Deutschland”, X3-Podcast, Episode 31 (finanziert von dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft (MKW) des Landes Nordrhein-Westfalen)https://spoti.fi/3jQntnY
- Hauptgast im YouTube-video „Linguist erklärt Kasimirs Geschrei“, YouTube Kanal Izue!https://www.youtube.com/watch?v=Pzm0fnMC3wo
- Квеля — язык русских немцев. „Квеля – это клево“!? Interview & Diskussionsrunde über den deutsch-russischen Sprachkontakt und die Mehrsprachigkeit bei den sog. Russlanddeutschen (Co-Gast: Moritz Gathmann), Телеканал OstWest:https://youtu.be/yIWem3Rz2mo